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...am Leben gelassen
Autor: Detlef Lippek
Eingestellt am: 16.03.2006
Es ist Sonntag. Ich habe Spätdienst. Ein sonniger schöner Herbsttag. Mein Kollege und ich wurden heute gut mit Einsätzen eingedeckt und verloren zeitweise jegliches Zeitgefühl. Keine spektakulären Sachen, aber es steht uns noch einige Schreibarbeit bevor. Der Nachmittag vergeht wie im Fluge und langsam beginnt die Dämmerung. Zunehmend steigt in uns die Vorfreude auf den Feierabend und das damit verbundene gemütliche Beisammensein mit den Kollegen und dem anschließenden Abend zu Hause bei unseren Familien, unseren Kindern, unseren Ehefrauen.
Wir unterhalten uns über Belanglosigkeiten, machen Witze über dies und das und amüsieren uns über eine Gruppe Kinder, die auf einer Wiese vergeblich versucht, einen Drachen steigen zu lassen. Sie schauen kurz zu uns rüber, winken uns zu, bevor sie sich erneut ihrem bunten Drachen widmen. Ich überlege kurz, ob ich ihnen helfe. Doch ich verwerfe diesen Gedanken schnell. Schreibarbeit.
Natürlich erzähle ich nun meinem Kollegen die Geschichte von dem selbstgebauten Drachen. An einem Sonntag war es. Meinem Sohn und meiner Tochter wollte ich endlich einmal zeigen, wie wir früher als Kinder Drachen steigen ließen. Mehrere hundert Meter Drachenschnur hatte ich, entgegen aller Vernunft und Vorschriften, unter den aufmerksamen Augen meiner beiden Kleinen zusammengebunden. Erwartungsvoll begaben wir uns auf eine nahegelegene Wiese. Es passte alles: Der Wind, das Wetter, genügend Freifläche. Und mein Drachen hob ab. Die Kinder waren begeistert, als ich dem Drachen immer mehr Schnur gab. Irgendwann stand er hoch oben am blauen Himmel. So läßt man einen Drachen steigen! Ich war stolz. Meine beiden staunten nicht schlecht, als nur noch ein kleiner Punkt am Himmel zu sehen war. Es war ein Sonntag. Plötzlich mischte sich in diese Szene weit entferntes Motorengeräusch. Als ich in die Richtung schaute, erschrak ich. Hubschrauber fliegen auch sonntags. Das war damals meine neue Erkenntnis. Und sie flogen genau in unsere Richtung. In Panik, unter dem lauten Geschrei meiner Kinder, holte ich die Leine ein, rannte wie um mein Leben und zog den Drachen verzweifelt aus dem Gefahrenbereich. Völlig erschöpft setzten wir uns schließlich ins Gras. Staunend schauten wir zum Himmel und verfolgten die Flugbahn der insgesamt neun Militärhubschrauber, die genau über uns hinweg flogen. Glück gehabt! Ich schaue erleichtert meine Kinder an. Was für ein Erlebnis!
Die Drachenschnur blieb bei dieser Aktion auf der Strecke. Völlig verheddert und verknotet lag sie kreuz und quer auf der Wiese herum.
So lässt man also einen Drachen steigen. Früher war das eben doch irgendwie anders.
Mein Kollege lacht sich schlapp über soviel Unvernunft, äußert jedoch Verständnis, schließlich hat auch er Kinder.
Der Funkverkehr beruhigt sich. Es wird kaum noch gesprochen. Ich steuere den Funkwagen Richtung Wache.
Etwas ungläubig verfolgen wir die plötzliche Änderung unserer Situation. Unsere Leitstelle gibt einen Einsatz heraus. Soeben wurde angeblich in einer Wohnsiedlung in unserem Zuständigkeitsbereich ein Kind entführt.
In der zurückliegenden Zeit häufen sich Fälle von Kindesentziehungen innerhalb von Familien. Schlimm genug: Die Eltern streiten sich um das Sorgerecht der Kinder, wonach meistens die Väter den Kürzeren ziehen. Völlig uneinsichtig, gefrustet und hilflos nutzen sie dann einen geeigneten Moment, um gegen den Willen ihrer Frauen das betreffende Kind an sich zu reißen und vorübergehend unterzutauchen. Das Wohl der Kinder spielt hierbei oft nur eine untergeordnete Rolle.

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