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Die Kirschblüte
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Autorin: Simone Meinhardis Eingestellt am: 11.09.2005
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"Hättest du…" er muss sich räuspern "…hättest du Lust auf einen Spaziergang?"
Atemlose Sekunden, dann ihr leises: "Warum nicht?"
Die Nachtluft schneidet eisig in die Haut. Grit kuschelt sich in ihren Mantel. Michael wirft ihr einen heimlichen Blick zu. Wie oft hat er geträumt? Hundert mal, tausendmal? Träume sind Schall und Rauch, das weiß er. Wie oft wollte er die richtigen Worte finden, den Mut, sie auszusprechen? Und wie grob pflegt ihn die Realität einzuholen, zurückweichend, wo er hätte vorwärtsgehen müssen? Wie könnte er diesem zerbrechlichen Falter neben sich gestehen, dass sie durch seine Träume flatterte wie ein Schmetterling von Blüte zu Blüte? Lebensfroh, leichtfüßig und gefüllt mit prallem Leben, wie hätte er sie mit seinem Ernst hinabziehen können? Nichts hat er ihr zu bieten, nur ein ehrliches Leben voll Arbeit – zuwenig für einen Falter, der bunte Blüten liebt.
Jetzt? Wird er endlich sagen, worauf sie so lange wartet? Sein Gesicht verrät ihr nichts. Wie auch? Was könnte ihn treiben, eine wie sie zu lieben, oberflächlich, sprunghaft, flippig? Eine, die durchs Leben stürmt, um die Leere zu vergessen, die so schmerzt? Nein, nie kann es passieren. Ihr heimlicher Traum von Stille und Geborgenheit, er kann nie wahr werden. Zu oft hat sie seine Augen gesehen, ohne es auszusprechen. Zu spät.
Aus dem hellen Haus schallt Lärm. "Zehn, neun, acht...." Glocken, schillernde Feuerschweife am Himmel, Jubel. Sie stehen still, sehen einander an.
"Ich muss gehen!" meint Michael leise. Stummes Nicken, ein Händedruck. Langsam dreht Grit sich um, geht ins Haus zurück. Er stopft die Hände in die Taschen, schleicht davon. Stutzen. Seine Finger ertasten die Kirschblüte, darin ein Fetzen Papier: eine gekritzelte Telefonnummer. Sachte breitet sich ein Strahlen über sein Gesicht. Ein neues Jahr. Ein neues Leben?

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* Aktuelles *
(02.04.2023)
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"Ich entschloß mich von dem Standpunkt meiner eigenen
Erfahrungen zu schreiben, von dem was ich wusste und was ich
fühlte. Und das war meine Rettung...
... Was ist Original? Alles was wir tun, alles was wir
Denken existiert bereits und wir sind nur Vermittler. Das ist
alles. Wir machen von dem Gebrauch was bereits in der Luft ist."
Henry Miller, aus einem Interview in den 60-iger Jahren
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