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Stimmen
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Autorin: Birgit Enser Eingestellt am: 01.11.2006
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Wie immer wachte er gegen 05.30 Uhr auf. Er brauchte keinen Wecker, hatte noch nie einen gebraucht, er war es einfach gewohnt, um diese Zeit aufzuwachen. Ihm blieben dann noch ein paar Minuten der Ruhe, bis sie nach ihm rufen würde mit ihrer klagenden, vorwurfsvollen Stimme.
An diesem Wochenende war es besonders schlimm für ihn gewesen. Nichts hatte er ihr recht machen können. - Hatte er das überhaupt jemals? Wenn ja, dann war dieses Wissen verdrängt worden von dem Gefühl der Ohnmacht, mit dem er seit Jahren lebte.
Am Samstag war das Wetter so schön gewesen, dass er sie gefragt hatte, ob er sie nicht mit dem Rollstuhl ein wenig in den Park fahren solle, aber sie hatte ihn nur vorwurfsvoll angesehen, als könne sie nicht begreifen, dass er auch nur im Geringsten annehmen konnte, ihr mit solch einem Vorschlag eine Freude zu machen.
Er wollte ihr ja überhaupt keine Freude machen, er wollte nur raus aus diesem düsteren Verlies, in dem er seit seiner Geburt lebte.
Dr. Schröder hatte ihm gesagt, er müsse auch mal an sich denken, so krank sei Mutter nicht. Aber was wusste der schon? Hatte er jemals ihr gequältes Schreien gehört, wenn er sie baden musste? Wenn er sie auch nur in den Rollstuhl hob? Nein, das hatte er nicht, schließlich nahm Mutter sich in seiner Gegenwart immer zusammen, ließ sich sogar von ihrem Sohn zurechtmachen für den Besuch des Arztes. Damit der nicht wieder von dem Altenheim anfing!
Und das hätte er ihr auch gar nicht antun können! Seine Mutter in ein Altenheim packen! Niemals!
Sicher, auch seine Gesundheit hatte Grenzen. Vor ein paar Jahren war er zusammengebrochen und hatte 3 Wochen in einer Klinik verbracht, wunderschöne Wochen. Seitdem hörte er ab und zu Stimmen, Stimmen, die ihn locken wollten. Er hatte Dr. Schröder davon erzählt, der hatte ihm ein paar Tropfen verordnet. Stümper! Von nichts hatte der 'ne Ahnung, aber auch von gar nichts! Aber Mutter hielt eben große Stücke auf ihn, schließlich kannte sie ihn seit Jahren, er war immer ihr Hausarzt gewesen.
"Bernie? Bernie, wo bist du denn? Warum muss ich ständig nach dir rufen? "
Es war soweit. Langsam und lustlos stand er auf, zog sich seine Hose an und ging in Mutters Schlafzimmer. Sie lag in ihrem Bett, oder besser gesagt, sie thronte in ihrem Bett, da sie fast im Sitzen schlief. Das entlaste sie beim Atmen, sagte sie.
"Na endlich! Ich kann mir hier die Lunge aus dem Leib rufen. Sterben könnte ich in der Nacht, das würde der Herr Sohn gar nicht mitbekommen. Warst wieder mit diesen Heftchen beschäftigt, was? Glaub' mir, ich weiß sehr wohl, was du da in deinem Zimmer tust, wenn du denkst, ich schlafe!
Widerlich ist das, einfach widerlich! Ich frage mich, warum ich mit solch einem Perversling von Sohn gestraft wurde. Nun hilf' mir endlich, hilf' mir auf! Gleich musst du zur Arbeit, und ich sitz' wieder stundenlang mit dieser Person zu Hause! "
Die Stimmen wurden wieder lauter. Es war schön gewesen in der Klinik, so ruhig, viel grün, ein kleiner See. Aber Mutter hatte in der Zeit damals sehr gelitten. Er hatte ihr gefehlt, dass wusste er. Ja, er durfte sie nie wieder allein lassen.
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"Ich entschloß mich von dem Standpunkt meiner eigenen
Erfahrungen zu schreiben, von dem was ich wusste und was ich
fühlte. Und das war meine Rettung...
... Was ist Original? Alles was wir tun, alles was wir
Denken existiert bereits und wir sind nur Vermittler. Das ist
alles. Wir machen von dem Gebrauch was bereits in der Luft ist."
Henry Miller, aus einem Interview in den 60-iger Jahren
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